Wer bist du ohne deine Geschichten?

Stell dir vor, du kommst als völlig unbeschriebenes Blatt zur Welt. Unschuldig, nichtsahnend, was dich erwartet. Vielleicht gibt es schon einen Eintrag, weil es während der Schwangerschaft zu besonderen Vorkommnissen gekommen ist. Aber in der Regel bist du bei der Geburt wie eine weiße Leinwand.

 

Aber was passiert nach der Geburt? Ohne unser Zutun und ohne, dass wir es verhindern können, wird unsere weiße Leinwand vollgekritzelt. Vor allem in den ersten Lebensjahren schreibt und malt sich jeder in unserem direkten Umfeld die Finger wund. Zunächst in erster Linie unsere Eltern. Die Einträge handeln davon, wie diese Welt funktioniert. Wie andere funktionieren. Vor allem wie wir zu funktionieren haben. Und was wir unbedingt zu lassen haben. Also alles aus Sicht unserer Eltern.

 

Stell dir vor, du hättest andere Eltern gehabt. Du wärest vielleicht nicht in unserer westlichen Zivilisation aufgewachsen. Sondern bei einem Stamm im Dschungel. Dann würde deine Leinwand komplett anders aussehen.

 

Aber so kommen später noch weitere Einträge hinzu von Erzieher*innen, Verwandten und Freund*innen, von Lehrer*innen, Ausbilder*innen, Dozent*innen und Arbeitgeber*innen und, und, und. Aber vor allem die ersten Jahre haben einen besonderen Einfluss auf unser späteres Leben. Da sind wir dem nämlich vollkommen ausgeliefert, ohne die Möglichkeit etwas zu hinterfragen oder Einspruch zu erheben. Alles wird ungefiltert in unserem Unterbewusstsein gespeichert. Es verfestigt sich mit den Jahren zu unbewussten Glaubensmustern, durch deren Filter wir uns selbst und unsere Umwelt wahrnehmen und beurteilen. Durch die Besonderheit dieses Filters, dass er für uns nicht sichtbar ist, glauben wir, dass die Welt tatsächlich so ist, wie wir sie wahrnehmen. Wir merken mit unserem „normalen Alltagsverstand“ nicht, dass wir quasi eine gefärbte Brille aufhaben.

Laut neurowissenschaftlichen Erkenntnissen basieren ca. 90 bis 95% unserer Gedanken und Entscheidungen auf diesem Unterbewusstsein. Vor allem auf dem, was wir in den ersten sieben Lebensjahren gelernt und verinnerlicht haben. Fataler Weise haben ca. zwei Drittel dieser Gedanken einschränkende und selbstsabotierende Inhalte. Zumindest solange wir in westlichen Zivilisationen aufgewachsen sind und wir uns später nicht mit den Inhalten unserer Leinwand bewusst auseinandergesetzt haben.
Um aber tatsächlich Selbstsabotage zu betreiben, bedarf es „täglicher Übung“, also regelmäßiger Autosuggestion.

 

Das funktioniert mit positiven Einträgen bzw. Einstellungen natürlich genauso. Offensichtlich ist es aber nicht so häufig der Fall, sonst würde unsere Welt ganz anders aussehen. Das heißt, viele von uns beten sich unbewusst immer wieder all die negativen Einträge vor, die unsere Leinwand verunstalten. Es ist schon faszinierend, wieviel Hartnäckigkeit und Disziplin wir dabei an den Tag legen  können.


Dummerweise haben Gedanken Gefühle zur Folge, die wie ein Turbo Booster sind und die Wirkung unserer Autosuggestion um ein Vielfaches verstärken. Aus Gedanken werden aber auch Worte und auf Worte folgen meist passende Taten. Diese werden dann haargenau zu unseren Überzeugungen passen und sie damit weiter verfestigen. In Kurzform skizziert funktioniert so also das Spiel, das wir unser Leben nennen. Oft eben kein besonders erfreuliches Spiel. Es fühlt sich schal und leer an und überhaupt nicht wie ein Leben, das wir uns freiwillig ausgesucht hätten.

Nun stell dir einmal vor, dir käme deine vollgekritzelte Leinwand einfach abhanden. Oder du hast keine Lust, jeden einzelnen Glaubenssatz auf den Prüfstand zu stellen, wie viele Tools der Persönlichkeitsentwicklung vorschlagen. Sondern schmeißt ganz bewusst die komplette Leinwand in die Tonne. Dann könntest du dir also auch nicht mehr jeden Tag dieselben destruktiven Gedanken vorbeten.

 

Du wüsstest ja gar nichts davon. Wer wärest du dann? Stell dir vor, du hättest die durch deine Eltern und viele andere gefärbte Brille nicht mehr. Wie sähe die Welt dann aus? Stell dir vor, du würdest nichts mehr glauben, was andere dir sagen, wie etwas oder gar du zu sein hättest. Auch nicht, was du selbst dir immer gesagt hast. Du würdest einfach alles hinterfragen. Nichts mehr für gegeben hinnehmen. Was würdest du dann tun? Wer wärest du dann?
Genau an dem Punkt befinde ich mich gerade. Auf die meisten Fragen, die sich mir stellen, kann ich immer nur mit „Keine Ahnung“ antworten, da ich keine Vorlage mehr habe. Aber vielleicht ist es ja gerade gut, einfach mal keine Antwort zu haben. Keine Ahnung zu haben. Alles wieder durch eine Brille ohne Gläser zu sehen. Ohne Filter. Mal alles weglassen. Keine Lösung zu haben. Völlig auf mich selbst zurückgeworfen zu sein. Auf meine leere weiße Leinwand. Und damit einfach erst mal zu sein.

 

BOAH! Kann ich diese Leere aushalten? Aushalten, dass einfach mal nichts vorgegeben ist? Mir keiner mehr sagt, wie die Welt funktioniert. Mir die Vorlage fehlt, wer oder wie ich bin oder sein soll? Einfach still zu sein? Zu lauschen? Nach innen zu horchen? Was da noch ist? Und da IST etwas! Viel tiefer. Viel, viel weiter unterhalb der leeren Leinwand. Aber erst wenn sie leer ist, quasi transparent, gelingt es mir da durchzuschauen. Dann offenbart sich mir eine neue Welt.


Eine tiefe Verbundenheit mit dem, was ich eigentlich bin. Was meine wahre Natur ist. Wer ich eigentlich bin und wie ich eigentlich gedacht war, bevor diese ganzen Kritzeleien kamen. Die, die ich bin ohne meine ganzen Geschichten, ohne meine gefärbten Gedanken, Worte und Taten. Schlicht. Einfach. Voller Lebendigkeit und Lebenslust.


Dann kommt die pure Freude zum Vorschein. Ein Leuchten, wie ich es mir nicht hätte vorstellen können. Und dann brauche ich komischerweise gar keine Antworten mehr auf all die Fragen. Dann kann ich mit den Fragen einfach sein. UND: Dann übernehme ich Verantwortung dafür, was ICH auf meine leere Leinwand schreiben will. Dann nutze ich meine Hartnäckigkeit und Disziplin, um mir jeden Tag Autosuggestionen einzuflößen, die mir guttun und die sich richtig anfühlen. Und niemand schreibt mir mehr was auf meine Leinwand. Das ist allein meine Entscheidung. Das ist für mich Freiheit. Und das fühlt sich gut an.


Und hat sich für mich nun die Frage „Wer bin ich ohne meine Geschichten?“ abschließend beantwortet? Nein. Aber das war auch nicht das Ziel. Bei solchen Fragen geht es vielmehr darum, meinen Verstand bis zum geht nicht mehr herauszufordern. Ihn zu beschäftigen, damit er keinen alten Müll dazwischen quatscht. Und beschäftigt wird er garantiert sein, weil er solche Fragen eben nicht beantworten kann. Es geht darum ihn zu ermüden, bis er „aufgibt“, seinen „Griff lockert“, kapituliert. Dann wird der Weg frei zu den tieferliegenden Informationen. Zu meinem Unterbewusstsein. Und zu meinem „weisen Selbst“ oder zu meiner Seele. Der Weg frei, mich immer besser kennenzulernen. SoulTalk nenne ich das. Letztlich ist es egal, wie wir es nennen. Aber es lohnt sich auf jeden Fall.


Viel Spaß beim Ausprobieren!

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Kommentare: 2
  • #1

    Angela Maria (Mittwoch, 04 Mai 2022 17:11)

    Einfach toll geschrieben�
    ….aber brauche ich die alte volle Leinwand nicht , um Geschehenes zu verarbeiten, um es dann loszulassen? Woher nehme ich den Mut und die Motivation, die Volle Leinwand in die Tonne zu treten? Fragen über Fragen und aufkommende Angst vor noch mehr Einsamkeit. Ich bin jetzt schon gefühlt alleine und das verleitet zum aufgeben.
    Ich bin 64, das kann doch nicht schon alles gewesen sein. Ich möchte zurück ins Leben, aber wie schaffe ich das ?
    Eine neue leere Leinwand mit meinen Wunschträumen bemalen und darauf hoffen das alles besser wird. Das wäre ein Weg und viel Arbeit an mir selbst.
    Also ab in ein neues Leben……..Okay, ich versuche es. LG�





  • #2

    Barbara (Freitag, 06 Mai 2022 21:57)

    Guten Abend, nun weiß ich gar nicht mehr, wie ich beginnen soll. Nur kurz umrissen: seit der März 2020 hat sich halt alles drastisch verändert bei mir. Viele Freundschaften sind entzwei, ich Schaue kein TV mehr und höre kein Radio, weil mir das alles dermaßen auf den Senkel geht. Mein komplettes Umfeld ist regierungskonform, sodass diese Themen in meinem Beisein nicht angesprochen werden. D.h. alles fühlt sich nicht mehr echt an. Meine Infos ziehe ich aus Telegram und mittlerweile werde ich zum Einzelgänger. Mein Sohn, in Taiwan arbeitend und lebend, hat den Kontakt zu mir abgebrochen aus o.g. Gründen. Arbeite daran, ihn sozusagen loszulassen, weil's echt weh tut. Möchte gerne irgendwo hin, d.h. raus aus D, weil mir hier alles zu verlogen ist und man sich hier dumm und dämlich zahlt an Steuern etc. Bin 64. Meinst du, mich irgendwie in die positive Richtung bringen zu können? Danke und lieben Gruß B. bjlifestyle4@gmail.com